Hessens Regierungschef Rhein "Die Leute wollen lieber nach Frankfurt als nach Warschau, weil es bei uns mehr Geld gibt"

Stand: 30.04.2023 | Lesedauer: 9 Minuten

Von Hannelore Crolly,

Nikolaus Doll

In der Migrationskrise wirft Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) der Ampel vor, "völlig inakzeptabel" zu agieren. Sie habe seinem Land für die Unterbringung vor allem marode Immobilien bereitgestellt - und die restliche EU mit ihrem Zaudern im Kampf gegen illegale Migration "brüskiert".

Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU), 51
Quelle: Markus Hintzen

WELT AM SONNTAG: Herr Rhein, Sie haben angekündigt, keinen "Flüchtlingswahlkampf" zu machen. Lässt sich dieses wichtige Thema ausklammern?

Boris Rhein: Es geht nicht ums Ausklammern, sondern um den Hinweis, dass es völlig inakzeptabel ist, wie die Bundesregierung mit dem Thema umgeht. Sie hat als Einzige den Schlüssel in der Hand, um die Migration zu steuern und zu begrenzen. Aber es passiert nichts. Die Kommunen sind am Rande ihrer Belastbarkeit oder sogar schon darüber hinaus, sie schultern bisher die gesamten Lasten. Es ist allerhöchste Zeit, dass der Kanzler das Thema endlich zur Chefsache macht.

WELT AM SONNTAG: Das tut er doch am 10. Mai. Mit welchen Forderungen gehen Sie in den Gipfel beim Kanzler?

Rhein: Die Länder und Kommunen brauchen mehr Geld. Bisher erbringen die Länder dieses Jahr zusammen 16 Milliarden Euro, der Bund nur 2,75 Milliarden. Nötig ist mindestens eine Verdopplung des Bundesanteils. Außerdem muss die Bundesregierung für eine stärkere Steuerung der Migration sorgen. Die faire Verteilung innerhalb der EU ist weiter ein ungelöstes Thema, der Dublin-Vertrag wird ständig verletzt. Darüber hinaus muss uns der Bund endlich brauchbare Immobilien für die Erstaufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen zur Verfügung stellen.

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WELT AM SONNTAG: Der Bund hat doch Immobilien bereitgestellt …

Rhein: In vielen Fällen marode Immobilien. Ohne Heizung oder Toiletten, oder es wäre eine Grundsanierung nötig, die so schnell gar nicht möglich ist. Manche Gebäude sind überhaupt nicht mehr zu retten oder liegen so weit außerhalb, dass sie kaum Verkehrsanbindung haben.

WELT AM SONNTAG: Sie sagten, der Bund müsse Migration begrenzen. Wie soll das gehen?

Rhein: Illegale Zuwanderung ist kein Naturereignis, sondern ein Ergebnis von immer neuen Pull-Faktoren. Die Leute wollen doch lieber nach Frankfurt als nach Warschau, weil es bei uns mehr Geld gibt. Deshalb brauchen wir stärkere Grenzkontrollen, nicht nur an den EU-Außengrenzen, sondern auch an den Binnengrenzen.

WELT AM SONNTAG: Sie wollen Binnenkontrollen wieder einführen? Das war doch bei der Flüchtlingskrise 2015/16 eine tiefrote Linie in der EU.

Rhein: Wir alle haben dazugelernt. Wir brauchen zumindest vorübergehend auch Binnengrenzkontrollen. Schön ist das nicht, und gewünscht hat sich das auch niemand. Aber so ist die derzeitige Situation. Schon allein, um das Dublin-Abkommen durchzusetzen.

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WELT AM SONNTAG: Nach dem Asylsuchende dort bleiben müssen, wo sie erstmals in der EU eintrafen.

Rhein: Was sehr viele bekanntlich nicht tun. Sekundär-Migration ist für Deutschland immer noch ein gewaltiges Problem. Und das, obwohl das Dublin-Abkommen geschaffen wurde, um genau das zu verhindern.

WELT AM SONNTAG: Die Rückführung von nicht Asylberechtigten ist doch Ländersache. Wieso sehen Sie den Bund hier in der Pflicht?

Rhein: Bevor wir zurückführen können, muss der Bund durch Vereinbarungen oder mit Druck dafür sorgen, dass die Herkunftsländer überhaupt aufnehmen. Es geschieht aber nichts. Wieso hat die Bundesregierung den Visa-Hebel auf europäischer Ebene zunächst vom Tisch gewischt und alle anderen europäischen Länder brüskiert? Andere Ansätze wären die Entwicklungshilfe oder die Wirtschaftshilfe, aber auch hier: Fehlanzeige.

WELT AM SONNTAG: Beim Familienunternehmen Viessmann gehen Sie gern ein und aus. Der Wärmepumpen-Spezialist will sich durch Amerikaner vor asiatischer Konkurrenz retten lassen. Steht Deutschlands Heizungsbranche ein Schicksal bevor wie einst den Fotovoltaik-Herstellern - der Ausverkauf?

Rhein: Die ganze Branche der Hersteller von Wärmepumpen steht ohne Zweifel unter besonderem Druck, vor allem nach der Entscheidung der Bundesregierung, Öl- und Gasheizungen zu verbieten. Da wird es zu Umwälzungen kommen. Aber ich stehe in Kontakt mit der Eigentümerfamilie. Es gibt ein Bekenntnis zum Standort in Hessen und eine Arbeitsplatzgarantie.

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WELT AM SONNTAG: Ist der Fall Viessmann nicht das Musterbeispiel für den Ausverkauf des deutschen Mittelstands und den Abfluss von Technologie?

Rhein: Herr Viessmann wird Mitglied des Verwaltungsrats von Carrier, die Familie kann weiter Einfluss auf Entscheidungen nehmen. Aber es stimmt: Wir müssen aufpassen, dass es diesen Ausverkauf nicht gibt. Deutschland darf seinen technologischen Vorsprung nicht verlieren.

So wie wir das gerade beim Verbrennungsmotor erleben. Je mehr wir uns vom Ottomotor und dem Diesel verabschieden, desto größer wird unsere Abhängigkeit von chinesischer Batterietechnik im Automobilbau. Außerdem hat der Verbrennungsmotor mit CO?-neutralen synthetischen Kraftstoffen weiter Zukunft. Wenn wir ihn jetzt verbieten, entsteht der saubere Verbrenner samt Wertschöpfung nicht bei uns, sondern in anderen Regionen der Welt.

WELT AM SONNTAG: Sie plädieren dafür, dass Autos mit Verbrennungsmotoren auch über das beschlossene Aus im Jahr 2035 weiter zugelassen werden?

Rhein: Ja, wir sollten den Verbrenner verbessern, nicht verbieten. Die Ampel-Koalition neigt dazu, alles über Verbote zu regeln. Ich setze auf Fortschritt statt Verbote.

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WELT AM SONNTAG: Dirigistische Eingriffe gab es auch in Zeiten der großen Koalition, zum Beispiel das Verbot von Ölheizungen bis 2026. Warum war das okay?

Rhein: Sie sagen es ja: Da gab es eine Frist bis 2026 und keine faktische Vorgabe, wie die Menschen heizen sollen, so wie das jetzt mit der Wärmepumpe im Grunde der Fall ist. Was ich aber das eigentlich Bedenkliche finde, ist die Tatsache, dass die Ampel-Koalition immer öfter Gesetze im Eiltempo durchpeitschen will.

Ich beobachte, dass diese Regierungskoalition zunehmend erschöpft wirkt und deshalb versucht, noch möglichst schnell Vorhaben durchzubringen, bei denen wenigstens noch ein Minimalkonsens herrscht. Im vergangenen Jahr wurde auf Antrag der Koalition schon fast die Hälfte der Gesetze im Bundesrat mit Fristverkürzung, also im Eilverfahren, behandelt. Die Ampel macht den Notfall zum Normalfall.

WELT AM SONNTAG: Oder sie macht einfach Tempo, weil in 16 Jahren Kanzlerschaft von Angela Merkel (CDU) so viel liegengeblieben ist?

Rhein: Das ist zu einfach. Es mag sein, dass manches nicht schnell genug vorangekommen ist. Aber deshalb nun alles als eilbedürftig zu erklären, das geht nicht. Da fehlt jeder Respekt vor den parlamentarischen Verfahren. Und ohne genug Zeit für Debatten überrollt man auch die Menschen im Land. Das ist gefährlich für die Demokratie, das stärkt die extremistischen Kräfte, darauf warten die doch nur.

"Die Ampel-Koalition neigt dazu, alles über Verbote zu regeln. Ich setze auf Fortschritt statt Verbote"
Quelle: Markus Hintzen

Zusammenhalt beginnt mit Zuhören. Zu einer Demokratie gehört das Ringen um den richtigen Weg. Mit einem solchen Vorgehen der Ampel kann aus Cancel Culture irgendwann auch Cancel Democracy werden, weil Einspruch und Widerspruch massiv erschwert werden. Die Hauruckaktion mit den Heizungen ist das beste Beispiel dafür.

WELT AM SONNTAG: Es werden derzeit einige kontroverse Debatten in der CDU geführt. Die Finanzfachleute in Ihrer Partei wollen den Spitzensteuersatz anheben, um Durchschnittsverdiener zu entlasten. Ist das eine gute Idee?

Rhein: Das ist einer von vielen Debattenbeiträgen zum Grundsatzprogramm der CDU. Zu einer echten Volkspartei gehört, dass breit diskutiert wird. Klar ist aber auch: Das ist ausdrücklich nicht meine Position. Leistung muss sich lohnen. Das Zauberwort dafür heißt nicht Belastung, sondern Entlastung. Andere Parteien wollen belasten und bevormunden, die Union will entlasten und ermöglichen. Ich halte entsprechende Pläne deshalb auch nicht für mehrheitsfähig in der CDU.

WELT AM SONNTAG: Ist der Vorschlag der Rentenexperten in der Partei mehrheitsfähig, das Renteneintrittsalter an die gestiegene Lebenserwartungen zu koppeln?

Rhein: Nach meiner Einschätzung nein. Wenn ich sage, dass wir Leistungen belohnen müssen, zählt dazu auch die Lebensleistung. Dazu gehört, dass sich die Menschen darauf verlassen können, wie geplant in den verdienten Ruhestand zu gehen. Wer länger arbeiten will, soll das können, aber eben nicht müssen.

WELT AM SONNTAG: Wie stehen Sie zu Plänen der CDU-Wohnungsbauexperten, eine Mietpreisbremse, Indexmieten und eine Wohngemeinnützigkeit einzuführen?

Rhein: Das gibt es ja zum Teil in den Kommunen, aber wir haben im Fall von Berlin gesehen, dass das die Wohnungsnot nicht wirksam lindert. Auch über diese Punkte kann man diskutieren, aber ich finde, es gibt wirkungsvollere Maßnahmen gegen Wohnungsmangel und hohe Mieten: die Förderung beim Kauf von Wohneigentum. Wenn sich insbesondere junge Familien den Traum vom Eigenheim erfüllen möchten, sollten wir ihnen unter die Arme greifen, anstatt sie als Staat zur Kasse zu bitten.

Wir als CDU wollen deshalb beim Ersterwerb von Wohneigentum auf die Grunderwerbsteuer verzichten. Die Ampel hat im Koalitionsvertrag vorgesehen, den Ländern Freibeträge zu ermöglichen, aber es gibt dafür bis heute keinen Gesetzentwurf. Weil der Wohnungsmarkt aber äußerst angespannt ist, warten wir nicht auf die Ampel, sondern wollen als CDU ein Hessengeld für die ersten eigenen vier Wände zahlen. Das bedeutet, dass Käufer von Wohneigentum jeweils 10.000 Euro pro Käufer bekommen, pro Kind noch mal jeweils 5000 Euro. Macht bei einem Paar mit zwei Kindern 30.000 Euro.

WELT AM SONNTAG: Die Grünen gehen erstmals mit einem Spitzenkandidaten in die Wahl, Vizeministerpräsident Tarek Al-Wazir. Beunruhigt Sie das? Sie ließen sich jüngst von der Zeitschrift "Bunte" wenig subtil mit auf einem Fahrrad ablichten, als der "ökologische" Boris.

Rhein: Fahrrad fahre ich schon immer sehr gern, Mountainbike genauso wie Rennrad. Ich fahre am 1. Mai sogar beim Radklassiker Eschborn-Frankfurt mit. Aber ich fahre auch sehr gern Auto. Und dass eine Partei mit einer Stärke wie die Grünen einen eigenen Kandidaten aufstellt, halte ich für selbstverständlich. Nach zehn gemeinsamen Regierungsjahren besteht zu unserem Koalitionspartner ein außergewöhnlich gutes Verhältnis. Da gibt es keine Abnutzungserscheinungen.

WELT AM SONNTAG: Wenn man Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) oder CDU-Chef Friedrich Merz hört, klingt es, als seien die Grünen der Hauptfeind. Wie passen die Koalitionen in den Ländern in dieses Bild?

Rhein: Die Landesregierungen mit schwarzer und grüner Beteiligung funktionieren und sind sehr verlässlich, es gibt Stabilität und keinen Streit. Das unterscheidet uns von der Ampel. Wir sind in Hessen das Gegenmodell zur Streit-Ampel in Berlin.

WELT AM SONNTAG: Wir sehen im Berliner Senat allerdings auch, wie weit die CDU anderen Parteien entgegenkommt, um regieren zu können. Droht in diesen Bündnissen die Ökologisierung und Sozialdemokratisierung der CDU?

Rhein: Kai Wegner hat in Berlin mit einem engagierten Wahlkampf ein tolles Ergebnis erzielt. Das zeigt: Die CDU kann Großstadt. Er wird jetzt dafür arbeiten, dass Berlin mit einer vernünftigen Politik besser funktioniert. Eine Sozialdemokratisierung oder auch die Grünisierung der Union ist nicht zu befürchten.


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